Fernsehen über IP

Starke Geschichten, Goldgräber und Corona-Schock

Wie verändert Streaming die Sehgewohnheiten und wie wirkt sich das auf das Storytelling aus? Im Interview sprechen Bettina Reitz, Präsidentin der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF), und Ulrich Limmer, Professor an der HFF, Produzent und Drehbuchautor, über neue Erzählformen, starke Geschichten und darüber, was die Corona-Krise für diese Entwicklungen bedeutet.
Wie haben sich durch Streaming die Sehgewohnheiten geändert?

Bettina Reitz: Nach dem, was ich beobachte, würde ich statt „geändert“ eher „erweitert“ sagen. Es sind neue, unabhängigere Sehgewohnheiten entstanden. Das geht so weit, dass auch große Filme und aufwändige Erzählformate auf kleinen mobilen Endgeräten gesehen werden, denn man möchte auch unterwegs hochkarätige Inhalte. Gleichzeitig lieben zum Beispiel unsere Studierenden nach wie vor das Kino – teilweise holen sie für Filme von Streaming-Anbietern sogar extra Rechte und Genehmigungen ein, um diese Angebote gemeinsam in einem unserer HFF-Kinos zu sehen, weil sie die Kinoqualität einfach auf der großen Leinwand würdigen möchten.

Aktuell gibt es so viele, auch internationale Angebote, dass wir gar nicht alle sehen und kennen können; selbst, wenn wir wollten. So entstehen auch Fangruppen von Genres oder neuen Angeboten, die erstmal unter sich bleiben und nur im Erfolgsfall zeitversetzt neue Zielgruppen erreichen.

Welche Konsequenzen hat das fürs Storytelling?

Reitz: In jedem Fall muss es interessant und intelligent sein. Über den Begriff der Langeweile lässt sich trefflich streiten, aber wenn eine Erzählung, wenn Storytelling kein in sich stimmiges Zentrum, keinen Kern hat, der fasziniert und Neugierde weckt, wird man kein Publikum finden und auf Dauer halten können. Gleichzeitig ist Storytelling offener und freier geworden, weil die späteren Formate und Auswertungswege mehr geworden sind: In formaler Sicht nehme ich wahr, dass unsere Studierenden und frischen Absolventen im Storytelling zunächst einfach an das denken, was sie gerne erzählen möchten und dann entscheiden, welche Form sich dafür am besten eignet.

Heute suchen Produzenten verstärkt nach Ideen und Charakteren, deren Geschichten in möglichst vielen Formen und an möglichst unterschiedliche Zielgruppen erfolgreich verbreitet werden können. Wenn sich daraus auch noch eine hohe Nachfrage nach Merchandising-Produkten – gerade in der Spielzeugindustrie – entwickeln lässt, werden alle Wünsche erfüllt.
Bettina Reitz, Präsidentin der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF). © Robert Pupeter
Ulrich Limmer, Professor an der HFF, Produzent und Drehbuchautor. © Robert Pupeter
Inwiefern unterscheidet sich für Produzenten die Zusammenarbeit mit Streaming-Anbietern im Vergleich zu den etablierten Auftraggebern aus Film und Fernsehen?

Ulrich Limmer: Zweifellos sind die Wege kürzer und Entscheidungen kommen schneller zustande. Allerdings muss man sich vergegenwärtigen, dass die Vertragsbedingungen mitunter nicht einfach und für kleinere kreative Unternehmen nicht immer leicht zu erfüllen sind. In der jetzigen Corona-Krise, die unsere Branche in allerhöchste Gefahr bringt, schreitet Netflix mit sehr gutem Beispiel voran und ersetzt den Produktionsfirmen 100 Prozent der Ausfallkosten bei Corona-bedingtem Drehabbruch.

Es wäre wünschenswert, dass diese Solidarität der auftraggebenden Firmen und Sender auch hierzulande existieren würde. Wer 100 Prozent der Rechte vereinnahmt, sollte auch in einem solchen Katastrophenfall 100 Prozent der Verantwortung tragen, ansonsten treibt man die Produktionsfirmen in die Insolvenz und mit ihnen die Filmschaffenden in die unvermeidbare Arbeitslosigkeit.

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Netflix oder Amazon stecken Milliarden in neue Inhalte. Herrscht unter den Produzenten Goldgräberstimmung?

Limmer: Vor einigen Wochen hätte ich diese Frage teilweise bejaht. Teilweise, weil hauptsächlich größere Produktionsfirmen von dem Boom profitierten. Aber die Lage hat sich drastisch verändert: Aus der von vielen Seiten heraufbeschworenen Goldgräberstimmung ist durch die Corona-Krise ein Untergangsszenario geworden, das den Tod der ganzen Medienwirtschaft bedeutet, wenn nicht entschlossen und wirkungsvoll auf breiter Ebene finanzielle Hilfsmaßnahmen ergriffen werden.

Um es einmal klar zu sagen: Wenn man von Hilfen für die Produktionswirtschaft spricht, geht es um alle Filmschaffenden, nicht nur um die Rettung von Produktionsfirmen. Wer jetzt von den Verbänden nicht erkennt, dass nur ein solidarisches Miteinander das Überleben der Branche ermöglicht, hat den Ernst der Lage noch nicht erkannt. Noch sitzen die Menschen weltweit vor den Flachbildschirmen und werden sich hoffentlich bald nach einem gemeinschaftlichen Kinoerlebnis sehnen. Hoffen wir, dass die Branche diese Hoffnung erfüllen kann. Dafür müssen wir kämpfen.

Denken Sie, dass trotz der Produktionsausfälle immer noch genügend interessante Inhalte vorhanden sind oder werden wir erleben, wie sich bei dem einen oder anderen Streaming-Anbieter das Angebot an Originals ausdünnt?

Limmer: Der Nachschub an Produktionen, auch für Streaming-Anbieter, ist weltweit größtenteils versiegt. Alle Kreativen werden aber die Zeit der Isolation nutzen, um an neuen Projekten zu arbeiten, ebenso wie die Produktionsfirmen daran arbeiten, die unterbrochenen Dreharbeiten schnellstens nachzuholen. Irgendwann werden die Beschränkungen aufgehoben. Die große Frage wird sein, wie man produktionsseitig auf die sicherlich weiterhin bestehenden Vorsichtsmaßnahmen in Bezug auf Ansteckungsgefahren reagieren kann.

Das Virus wird nicht verschwunden sein. Wie werden sich die Filmversicherungen positionieren, wie die Banken, ohne deren Kreditvergabe und Cashflow-Absicherung keine Produktionen möglich sind? Hier sind neue Regularien nötig, die der Produktionswirtschaft und damit allen Filmschaffenden Sicherheit verschaffen, nicht schon wieder mit existenzgefährdenden Produktionsunterbrechungen rechnen zu müssen.

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