Tanja Hüther im Interview

Ein alternatives digitales Ökosystem für Europa 

Warum die BR Mediathek eigentlich ein bayerischer Streamingdienst ist und wieso es so wichtig ist, eine europäische digitale Infrastruktur zu schaffen, erzählt Tanja Hüther, Leiterin Distribution beim Bayerischen Rundfunk (BR), im Interview.
Frau Hüther, wie beurteilen Sie die Entwicklung des non-linearen TV-Konsums?

Tanja Hüther: Das lineare Fernsehen macht weiter den Löwenanteil bei der Bewegtbildnutzung in Deutschland aus, etwa 25 Prozent entfallen aber schon heute auf den non-linearen Konsum. Menschen unter 30 Jahren schauen bereits überwiegend auf Abruf. Insoweit ist davon auszugehen, dass die non-lineare Bewegtbildnutzung weiter zunehmen wird – zum Teil auf Kosten des linearen Fernsehens. Im Zuge der Digitalisierung wächst zugleich das On-Demand-Angebot und somit der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Zuschauer: Global aufgestellte US-Anbieter wie Netflix und Amazon Prime erhöhen seit Jahren ihre Budgets für Eigenproduktionen, in diesem Jahr haben auch Apple und Disney ihre Streaming-Angebote in Deutschland gestartet.

Aber: Auch die öffentlich-rechtlichen Sender spielen hier eine sehr große Rolle – über die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland – 57 Prozent – nutzen Mediatheken der Fernsehsender, der größte Teil der Nutzung entfällt dabei auf die Plattformen von ARD und ZDF. Eine Position, auf die auch wir im Bayerischen Rundfunk hervorragend aufbauen können und die wir mit einer konsequenten Stärkung der BR Mediathek weiter festigen wollen.
„Grundsätzlich stellen wir inzwischen fast alle Neuproduktionen quer durch alle Genres – von Unterhaltung über Doku bis hin zu Wissensinhalten – noch vor der TV-Ausstrahlung in die BR Mediathek.“
Wie stellt sich der Bayerische Rundfunk auf, um auch auf dem Verbreitungsweg IP präsent zu sein?

Hüther: Entscheidend ist ein klares Profil mit unverwechselbaren Inhalten, die die Nutzer*innen sonst nirgends finden. Dabei liegt unsere große Chance in jenem Bereich, der ohnehin unserer DNA entspricht und den die global aufgestellten Streaming-Anbieter nicht oder höchstens in Spurenelementen bedienen: bei hochwertigen nationalen und regionalen Inhalten mit einem breiten Spektrum aus Information, Unterhaltung und Bildung. Diese Stärke aus der linearen Welt auf Plattformen wie die BR Mediathek zu übertragen, sowohl mit bestehenden als auch neu produzierten Inhalten, hat für uns hohe Priorität. Im Fiktionalen haben wir früh reagiert und Serien entwickelt, die in erster Linie auf ein Streaming-Publikum zielen – wie „Hindafing“, „Servus Baby“ und „Das Institut – Oase des Scheiterns“.

Grundsätzlich stellen wir inzwischen fast alle Neuproduktionen quer durch alle Genres – von Unterhaltung über Doku bis hin zu Wissensinhalten – noch vor der TV-Ausstrahlung in die BR Mediathek. Diese soll nicht mehr nur als Adresse wahrgenommen werden, in der sich verpasste Sendungen nachträglich anschauen lassen – sondern als bayerischer Streaming-Dienst. Ganz wichtig ist übrigens auch der Bereich der aktuellen Information und die Möglichkeit, bei besonderen Nachrichtenlagen (Beispiel Corona-Krise) oder auch selbst gesetzten Themenschwerpunkten vielfältige Beiträge aus der gesamten Palette unseres Fernseh- und auch Hörfunkprogramms in der BR Mediathek zu bündeln. Damit können wir wichtige Themen in großer Tiefe und aus einer Vielzahl von Blickwinkeln darstellen und frei von jedem Sendeplatz-Schema eine zuverlässige, fundierte Anlaufstelle für alle Zielgruppen schaffen.

In den vergangenen beiden Jahren haben wir beim BR – wie übrigens auch auf ARD-Ebene – unsere Programmkraft im Digitalen auf wenigen, dafür klar positionierten Plattformen gebündelt. Neben der BR Mediathek gehört dazu insbesondere das Online-Nachrichtenangebot BR24 für Nachrichten und Information. Auf die technische und programmliche Entwicklung dieser Plattformen sowie die optimale Distribution in der vielfältigen digitalen Medienlandschaft werden wir auch in der kommenden Zeit einen Fokus legen.

Der neue Medienstaatsvertrag soll den veränderten Marktverhältnissen Rechnung tragen. Erhält der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Rahmen der non-linearen Verbreitung die Entwicklungsmöglichkeiten, die er benötigt?

Hüther: Der Gesetzgeber ist gewillt, den Regulierungsrahmen für Telemedienangebote kontinuierlich den veränderten Nutzungsgewohnheiten und Erwartungen der beitragszahlenden Nutzer in der digitalen Welt anzupassen. Dies zeigt sich zum einen durch die in den letzten Jahren bereits in Kraft getretenen Änderungen des Rundfunkstaatsvertrags. So haben die Länder beispielsweise das erfolgreiche Jugendangebot Funk von ARD und ZDF ins Leben gerufen und dabei die zielgruppenspezifische Entwicklung im Netz und speziell auch auf Drittplattformen ermöglicht.

Aber auch mit dem zur Beschlussfassung anstehenden Medienstaatsvertrag werden richtige Weichen gestellt, indem die Plattformregulierung modifiziert wird. Dabei wird vor allem sichergestellt, dass die gesetzlich beauftragten vielfaltsrelevanten Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf Drittplattformen leicht auffindbar sind und nicht durch Überblendungen oder anderweitig verändert werden dürfen.

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind im ständigen Austausch mit den Ländern, um in den kommenden Jahren nächste Schritte zur Sicherung der Entwicklungsmöglichkeiten für die non-lineare Verbreitung öffentlich-rechtlicher Inhalte zu gehen.
„Fakten und qualitativ hochwertige Inhalte begegnen den Nutzern auf gleicher Ebene wie Lügen, Propaganda, Hass und Verleumdung.“
Sie befürworten die Etablierung einer europäischen Streaming-Plattform. Welche Vorteile hätte eine solche Plattform?

Hüther: Zuallererst: Es handelt sich bei dieser Idee des BR-Intendanten Ulrich Wilhelm nicht um eine Streaming-Plattform oder Super-Mediathek – es geht um viel mehr. Es geht um eine europäische digitale Infrastruktur, die unseren europäischen Werten und Regeln folgt.

Warum brauchen wir einen solchen digitalen öffentlichen Raum? Der digitale Kommunikationsraum ist heute durch die marktbeherrschende Stellung der großen Plattformanbieter geprägt, vor allem aus den USA, aber zunehmend auch aus China. Er unterliegt damit Geschäftsmodellen, die nicht auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind, sondern primär auf unternehmerische Ziele. Für unsere Gesellschaft in Europa und unsere Demokratien ist das insofern problematisch, als die Relevanz und Sichtbarkeit von Inhalten über Algorithmen gesteuert werden, die nicht transparent gemacht werden und auf die Europa keinen Einfluss hat. Fakten und qualitativ hochwertige Inhalte begegnen den Nutzer*innen auf gleicher Ebene wie Lügen, Propaganda, Hass und Verleumdung.

Die Initiative von Ulrich Wilhelm soll diesen Fehlentwicklungen entgegenwirken. Anbieter von Qualitätsinhalten, wie beispielsweise öffentlich-rechtliche und private Rundfunkanbieter, Verlage, aber auch Institutionen aus Wissenschaft und Kultur, könnten ein solches alternatives digitales Ökosystem nutzen und mit ihren Inhalten ein vertrauenswürdiges Umfeld schaffen.

Wie weit ist man in Brüssel bei der Umsetzung dieser Plattformidee?

Hüther: Es braucht einen starken politischen Gestaltungswillen Europas, wie seinerzeit beim Airbus oder der Raumfahrt. Die Politik muss die Idee aufgreifen, am besten länderübergreifend und auf europäischer Ebene. Einzelne Pilotprojekte gehen derzeit in die richtige Richtung. So erarbeitet beispielsweise die Europäische Rundfunkunion EBU, der Zusammenschluss der öffentlich-rechtlichen Sender in Europa, aktuell Pilotkonzepte für eine audiovisuelle Plattforminfrastruktur mit eigenen technologischen Ansätzen aus Europa.

Best Cases aus Bayern

Nächster Artikel